Phenomenological Reviews

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148569

Ein Versuch über Herkunft und Zukunft in der "Frömmigkeit des Denkens" im Hinblick auf Martin Heidegger

Max Müller

pp. 235-251

Abstract

Das für die Jahrestagung 1991 der Martin-Heidegger-Gesellschaft gewählte Thema heißt "Europa und die Philosophie." Wie stets findet die Jahrestagung unserer Gesellschaft am Geburtsort des Denkers, dessen Namen sie trägt, und in der zeitlichen Nähe zu seinem Geburtstag statt, orientiert sich also am Raum und der Zeit seiner Herkunft. Beides umschreiben wir mit dem Begriff der "Heimat". Heidegger ist nicht in ihr geblieben, er hat sich von ihr gelöst, aber in dieser Lösung war die Rückbindung an sie unaufhebbar. "Heimat" bedeutet zugleich Geborgenheit, in ihrer Wirklichkeit geschieht also nie die radikale Entbergung, die doch als Vorgang die "Wahrheit" des Lebens ist. Vorgang bedeutet hier Ausgang-aus, Weggang-von der Sicherheit der Heimat als der bergenden und schützenden Umwelt, in die wir eingelassen, eingefügt sind. Heidegger spricht in seiner Fundamental-Ontologie von "Sein und Zeit," Welt sei für uns "geworfener Entwurf," also Vorgabe und Aufgabe zugleich. Unseren Ort, unsere Stelle in ihr (der Welt) müssen wir erst finden, oder, wie Arnold Gehlen sagt, wir sind das unfestgestellte Seiende, das an keinem Ort schon sicher steht, jenes utopische Wesen, das als ein Atopon sich seinen Topos erst suchen muß. Schon Nietzsche gebrauchte den Ausdruck vom "unfestgestellten Tier" für den Menschen. Wenn wir aber "Heimat" haben, ist über uns und unseren Ort, den wir einzunehmen haben, doch gleichsam schon verfügt. Man könnte diese heimatliche "Schon-Verfügtheit" über uns unsere "In-sistenz" nennen, unsere Vorweg-Bindung. Alles Seiende hat diese Gebundenheit, damit auch der Mensch. Im Zentralen heißt aber Menschsein: Offensein, Freisein, in die Offenheit der Freiheit und nicht in die Bindung der Heimat eingelassen sein. Gerade diesen Aus-stand nennt Heidegger die Ek-sistenz, d.h. zwar nicht bindungslos sein, aber doch auf verschiedene Art zu jeder Bindung, in der wir schon stehen, Stellung nehmen zu können als Entscheidung zu ihr oder auch gegen sie, dann aber in der Suche nach neuer Verbindlichkeit; im Weggang von ihr ist sie immer vorausgesetzt, und so ist Freiheit auch immer Befreiung. Die Befreiung behält das, von dem sie sich befreit, immer bei sich: die Ek-sistenz geschieht im Durchbruch und Ausbruch aus der In-sistenz, die die beständige Bedingung ihrer Möglichkeit bleibt. Der Weggang von der Heimat beseitigt nicht ihre bleibende Bedeutung für den Weggehenden. Bei Nietzsche steht die Klage "Weh dem, der keine Heimat hat" (neben der Preisung "Wohl dem, der eine Heimat hat") unmittelbar bei der Rühmung und der Preisung des "Genuesers" (Kolumbus), der sein Schiff ins schlechthin Offene hinaustreibt, wo nur das "Auge der Unendlichkeit" ihn anblickt und er sie erblickt.

Publication details

Published in:

Babich Babette (1995) From phenomenology to thought, errancy, and desire: Essays in honor of William J. Richardson, S.J.. Dordrecht, Springer.

Pages: 235-251

DOI: 10.1007/978-94-017-1624-6_16

Full citation:

Müller Max (1995) „Ein Versuch über Herkunft und Zukunft in der "Frömmigkeit des Denkens" im Hinblick auf Martin Heidegger“, In: B. Babich (Hrsg.), From phenomenology to thought, errancy, and desire, Dordrecht, Springer, 235–251.