Einleitung
11 Manchmal habe ich von einem phänomenologischen Strukturalismus oder, im weiteren Sinne, von einem phänomenologisch-strukturellen Standpunkt gesprochen, um meine Aufnahme phänomenologischer Themen zu kenn|zeichnen. Im Folgenden möchte ich einige Erklärungen dazu geben.
2Zunächst sei festgehalten, dass dieser Standpunkt nicht aus einer Mischung von Phänomenologie und Strukturalismus als jener kulturellen und philosophischen Richtung entspringt, die ihre Methode der Sprach|wissenschaft entlehnt. Auch ist mit diesem Ausdruck nicht das Vorkomm|nis phänomenologischer Themen in diesem Umkreis gemeint.
3Wenn wir nicht einfach den Gewohnheiten der philosophischen Ter|minologie folgen, können wir im deutschen Wort ‚Wesen‘ eine Nuance erfassen, die mit ‚Struktur‘ besser als mit ‚essentia‘ ausgedrückt wird. Recht beachtet, würden dadurch zahlreiche alte Streitfragen zum phänomenolo|gischen Platonismus gegenstandslos.
4Das Wort ‚Struktur‘ verweist auf die Idee eines Gerüsts, eines inneren Schematismus, einer Weise des inneren Baus, kurz auf die Idee einer charakteristischen Gestalt, die—meiner Meinung nach—direkt zum erstrebten Ziel der phänomenologischen Untersuchung führt.
Definition der phänomenologischen Methode
5Ich habe einmal versucht, auf folgende Weise die phänomenologische Methode in einer Philosophie der Erfahrung kurz zu definieren: Die phänomenologische Methode will Erfahrungsakte durch Aufweisung ihrer strukturellen Unterschiede charakterisieren. Ich kenne keine einfachere und klarere Definition, und es ist seltsam, dass sie keinen Eingang in die phänomenologische Literatur fand.
6Auf die Struktur aufmerksam machen heisst zunächst, den wahren, vor allem polemischen Sinn der phänomenologischen Frage nach den ‚Essenzen‘ hervorzuheben. Dieser Sinn liegt in der antipsychologischen Einstellung, die die philosophische Phänomenologie kennzeichnet. Diese Bemerkung ist nicht überflüssig: Bedeutende Philosophen wie Sartre oder Merleau-Ponty haben diesen Sinn nicht begriffen, und ihren phänomeno|logischen Untersuchungen haftet zumeist die Form einer philosophischen Reflexion über Resultate von empirisch-psychologischen Forschungen an. Daraus folgt, dass sie einem phänomenologischen Strukturalismus weniger angehören als Philosophen wie Ernst Cassirer oder Ludwig Wittgenstein, die Husserls Philosophie ferner stehen.
7Damit nehmen wir aber zugleich kritisch Stellung gegen alle Versuche, die Phänomenologie in einem oberflächlichen Deskriptivismus zu relativieren, der unfähig ist, das Bedeutsame vom weniger Bedeutsamen ab|zutrennen, und sich damit zufrieden gibt, lediglich deskriptive Ergebnisse aneinanderzureihen. Das Ziel der Phänomenologie ist nicht, Beschreibun|gen blindlings und aufs Geratewohl zu liefern, sondern mittels Beschrei|bung strukturell bedeutsame Umstände zur Evidenz zu bringen.
Allgemeine These
8Die allgemeine These, zugleich die Bedingung der Möglichkeit phänomenolo|gischer Forschung, lautet also: Die Erfahrung besitzt in jeder ihrer Erschein|ungsformen eine Struktur, und die phänomenologische Untersuchung muss diese Struktur evident machen und ihre Knoten und Artikulationen klar aufzeigen. Nicht jede beschreibbare Sachlage ist daher einer Beschreibung würdig. Mit den beiden Wörtern ‚Erfahrung‘ und ‚Struktur‘ ist somit der ganze Bereich der phänomenologischen Forschung umschrieben.
9Die Phänomenologie ist eminenter Erfahrungslehre. Erfahrung hat nichts mit reiner Erkenntnis zu tun. Erkenntnis ist ein Titel für eine andere Forschungsrichtung, die als Wissenschaftslehre bezeichnet werden kann. Erfahrungslehre und Wissenschaftslehre sind zwei streng zu unterscheidende umfangreiche Gebiete der philosophischen Reflexion, die fälschlicherweise oft miteinander vermengt werden.
10Wir sagen nicht nur, dass eminenter die Phänomenologie Erfahr|ungslehre ist, sondern auch umgekehrt, dass eine in philosophischer Radikalität entwickelte Erfahrungslehre nur die Form einer phänomeno|logischen Theorie haben kann.
Husserls Weg
11Eine wichtige Präzisierung ist aber nötig. Eine phänome-nologische Erfahrungslehre hat natürlich die erfahrende Subjektivität als mögliches Thema ihrer Untersuchungen. Genauer gesagt: Auch in Beziehung auf das subjektive Leben in seinen mannigfaltigen Gestalten sind strukturelle Feststellungen möglich—es gibt auch hier einen offenen Raum für phänomenologische Aufklärungen. Aber diese Untersuchungen führen nicht zu einer ‚Philosophie der Subjektivität‘, sie münden nicht in einer Erneuerung des philosophischen ldealismus.
12Dies war bekanntlich Husserls Weg, der mit der cartesianischen Wendung begann und zu Kants Transzendentalismus weiterverlief.
13Von so wichtigen und umfangreichen Themen kann hier keine Rede sein. Zur Absicht dieses kurzen Aufsatzes gehört es aber wenigstens hervorzuheben, dass der Reduktionstheorie Husserls nicht nur rein theoreti|sche Absichten zugrundeliegen. Sein Bestreben die Theorie der Reduktion zu einer alles umfassenden Methodenfrage zu nutzen, in diesem Zusam|menhang das Auftauchen des Problems einer absoluten Begründung—für Husserl ein immer dringender gewordenes Erfordernis, das für ihn in seinen späteren Jahren zu einer Zwangsvorstellung wird – all dies zeigt, dass wir einer philosophischen Entwicklung gegenüber stehen, die ihre Ursachen nicht im Umkreis der reinen Theorie hat.
14In der verdünnten theoretischen Atmosphäre der Ideen drückt das Wort ‚Weltvernichtung‘, das in diesem Werk die Reduktion als abstrakte philosophische Leistung kennzeichnet, den Anbruch eines geschichtlichen Dramas von ungeheurem Ausmaß aus. Im Jahre 1913 ist das Bild einer vernichteten Welt seiner tragischen Verwirklichung sehr nah. Angesichts einer drohenden Weltvernichtung soll die Philosophie die Möglichkeit einer neuen Geburt verkünden. Die ganze Tradition muss aufgehoben werden, damit ihr ursprünglicher und vergessener Sinn, jenseits der Katastrophe, neu gedacht und neu wirksam werden kann. Davon redet die Krisis der europäischen Wissenschaften, deren tieferer Sinn—obgleich nur in Umrissen—schon im ersten Ansatz der Theorie der phänomenologischen Reduktion und in der Wendung zur Subjektivität angedeutet ist. Genauer gesagt: Im Problem der absoluten Begründung ist nicht nur der Begriff der Phänomenologie in Frage gestellt, sondern auch die Forderung einer geschichtlichen und ethischen Selbstbesinnung. Husserls transzendentaler ldealismus verfolgt also zunächst einen ethischen Anspruch: Damit soll die Weisheit der Philosophie der sinnlosen Tragik der Geschichte gegenüber geltend gemacht werden.
Kritik
15Hierzu gibt es viele offene Fragen. Es ist bekannt, dass die philosophische Reflexion von Enzo Paci genau in diese Richtung zielt. Die ethische Seite der Idee der Phänomenologie als einer Philosophie der Subjektivität, die schon Husserl sah und zum Thema machte, überwiegt in Pacis Unter|suchungen. Die Forderung nach einer konkret entwickelten Analyse der Erfahrung bleibt dabei im Hintergrund, und folglich können wir sagen, dass die Durchführung solcher phänomenologischen Untersuchungen, die eine Erfahrungslehre verwirklichen können, Pacis philosophischem Pro|gramm ganz fremd ist. Stattdessen finden wir Ausführungen zu Wissen|schaft und Technik in ihrer Beziehung zur ‚Bedeutung des Menschen‘—Ausführungen, die bloß ermahnend erscheinen. In solchen Zusammen|hängen spricht man insbesondere von Lebenswelt, meistens mit aus|schließlicher Rücksicht auf jene Aspekte, die den vereinfachten und philosophisch unfruchtbaren Gegensatz zwischen der vermutlich lebensfeindlichen Begrifflichkeit der Wissenschaft und dem Lebensstrom selbst, in welchen die Menschen eingebettet sind, betonen.
16Wollen wir hingegen den analytischen Gehalt der phänomenologischen Untersuchungen hervorheben, müssen wir die Reduktionstheorie zu ihren ursprünglichen Absichten zurückführen, die kurz und musterhaft im Motto ‚Zu den Sachen selbst‘ ausgedrückt sind. Von hier aus betrachtet, stellt die phänomenologische Epoché—wie zum Teil auch der cartesianische Zweifelsversuch—nur einen Kunstgriff dar, um eine die Welt als phänomenales Feld erörternde Untersuchung einzuleiten. Das Bestreben einer absoluten Begründung und das übertriebene Pathos um die letztfundierende transzendentale Subjektivität können ihre angemessene Klärung also nur in einem anderen Problemkreis finden.
17Zur selben kritischen Einstellung gehört auch unsere Beurteilung der empiristischen Tradition, deren grundlegende Bedeutung in der italienischen Forschung meist übersehen wird, besonders in neueren Auslegungen, die die allgemeine Tendenz zeigen, originär phänomenologische Themen so zu verarbeiten, dass sie schliesslich in einem Heideggerschen Horizont entschwinden, einem Konformismus gemäß, der leider nicht nur in Italien verbreitet ist.
18Natürlich ist Phänomenologie kein Empirismus, und ein phänomeno|logischer Strukturalismus muss sogar fähig sein, eine tiefgehende Kritik der empiristischen Neigungen zu üben, jener Neigungen, die in den philosophischen und kulturellen Auseinandersetzungen, besonders im Bereich semiologischer Forschung, noch weit verbreitet sind. Trotzdem ist die Erinnerung an die bedeutsame Rolle, die die empiristische Tradition für Husserl immer gespielt hat, auch Zeichen eines theoretischen Standpunkts: Die Zustimmung zu einem Begriff von Philosophie, einer intellektuellen Einstellung, die nicht den Wortschwall und die Phrasendrescherei liebt und auch nicht jene Wahrheiten, die zu ‚tiefsinnig‘ und deswegen auch tief unbegreiflich sind. Es ist übrigens bemerkenswert, dass die Frage nach der ursprünglichen Konstitution, die als eines der reichsten Motive der phänomenologischen Denkart gilt, empiristischen Quellen entstammt.
Genesis und Struktur
19Das Wort ‚Konstitution‘, aus constituo und constitutio geprägt, beinhaltet auch Vorstellungen, die die Idee der Struktur miteinbeziehen.
20Constitutio bedeutet legen, errichten und einrichten, aber auch mitsetzen, als ein Zusammenfassen, um etwas zu verstärken und zu befestigen. Im juristisch-rhetorischen Wortgebrauch heisst constituo, eine umstrittene Rechtssache klar zu bestimmen, und demnach auch die Festlegung und Umgrenzung eines Begriffs.
21Der Definition im logischen Sinne als Aussage der Essenz ist die Aufweisung der Konstitution entgegenzusetzen, und das heisst, die Art und Weise zu beschreiben, wie ein Begriff entstanden ist. Jede konstitutive Analyse ist Aufweisung einer Genesis.
22Im Begriff der phänomenologischen Konstitution tritt ein genetisches Motiv struktureller Betrachtung zutage: Die Begriffe besitzen eine Geschichte, die Strukturen sind konstituierte Strukturen, und man muss die Aufweisung der Konstitutionsprozesse als die eigentliche Methode der philosophischen Klärung ansehen. Wenn man verwickelte und verworrene Vorstellungen verdeutlichen und begriffliche Knoten auflösen will, dann muss man zunächst wissen, dass es eine innere Bewegung der Begriffe gibt und dass es nötig ist, diese Bewegung Schritt für Schritt zu wiederholen. Die Konstitutionsfrage führt uns zur Erfahrungsfrage zurück: Wenn es eine Geschichte der Begriffe gibt, gibt es auch einen Boden, von dem diese Geschichte ihren Anfang nehmen kann; und handelt es sich um den Erfahrungsboden, dann können wir vielleicht auch sagen, dass es sich um den Boden der allgemeinen Erfahrung, der Alltäglichkeit, handelt. Begriffliche Knoten aufzulösen bedeutet deshalb, die Art und Weise zu beschreiben, wie die Begriffe in unserem alltäglichen Verkehr mit der Welt konkret verwendet werden.
23Wir befinden uns hier auf dem Feld der Probleme, die der Titel Lebenswelt umschreibt, aber um phänomenologisch fruchtbar zu werden, muss dieser Titel von Bedeutungen befreit werden, die, in mehr oder weniger verdeckter Weise, uns zurück zu einer Lebensphilosophie führen, und er muss vor allem von dem falschen Gegensatz von Wissenschaft und Leben befreit werden.
Die Relevanz von Wittgensteins Sprachspielsbegriff
24In diesem Zusammenhang ist es sicherlich passend, an Wittgensteins Begriffe des ‚Sprachspiels‘ und der ‚Lebenform‘ als Kontext eines Sprachspiels zu erinnern. Im Hinblick auf unseren Standpunkt wäre jedoch einerseits die relativistische Wendung abzuschwächen, die die Stellung Wittgensteins und noch mehr diejenige seiner Anhänger kennzeichnet, und andererseits auf jene einseitige Betonung der Sprache zu verzichten, derzufolge die sprachliche Analyse die einzige Methode der Philosophie sei.
25Ohne Anspruch auf eine wirkliche Auseinandersetzung zu erheben, sind hier mindestens zwei wichtige Bemerkungen zu machen, die gewissermaßen gegeneinander spielen: Erstens ist es in der Entfaltung einer phänomenolo|gischen Beschreibung oft gefordert, die besonderen sprachlichen Ausdrucks|weisen zu berücksichtigen, und sogar in demselben Sinne, den Wittgenstein meisterhaft erläutert hat; zweitens muss man Sprache und Erfahrung prinzipiell unterscheiden, obschon es sich dabei um eng miteinander verflochtene Bereiche handelt. Jedenfalls ist Sprache allein kein Leitfaden für Ordnung und Entwicklung von philosophischen Problemen. Überdies ist es in der phäno|menologischen Forschung stets wichtig, von einer vorsprachlichen Dimension sprechen zu können. Mit diesen Einschränkungen ist der Standpunkt Witt|gensteins zweifellos fruchtbar, um die Idee eines phänomenologischen Strukturalismus zu vertiefen.
Notwendigkeit einer Theorie der Einbildungskraft
26Für das Problem der ursprünglichen Konstitution, aber auch für die ganze Problematik einer Erfahrungslehre spielt eine ausreichend entwickelte Theorie der Einbildungskraft eine erhebliche Rolle. Die Erfahrungswelt ist nicht nur wahrgenommene Welt, und besonders nicht nur eine Welt der Erkenntnis. Die subjektive Beziehung zur Welt stellt sich in verschiedenen Modalitäten dar, so dass die Sinngebungen vielschichtig und reich gegliedert sind: Im Aufbau dieser Sinngewebe leistet die Einbildungskraft eine bedeutende Arbeit. Will man ihre Leistungen kennen, muss man ihre Beschaffenheit analysieren, und das heisst, u.a. jene Bestimmungen ihres Objekts erfassen, die eine Un|terscheidung zwischen Einbildungsgegenstand einerseits und Wahrnehmungs- oder Erinnerungsgegenstand andererseits ermöglichen. In Husserls Denken finden wir einen wichtigen Anfang für eine echte Philosophie der Einbil|dungskraft. Es ist aber nur ein Anfang, Husserls Einbildungsphilosophie ist unvollständig und kann nur mit Ergänzungen angewandt werden. Besonders nötig ist es, die Idee der imaginativen Synthesen in ihrer eigenartigen Natur geltend zu machen. Mit diesen Synthesen ist der Begriff der einbildenden Wertgebung eng verbunden.
27In der Bearbeitung einer Theorie der Einbildungskraft wird ein Tor zu den Fragen der Kunstphilosophie geöffnet. Neuerdings habe ich versucht, die Wirksamkeit eines phänomenologisch-strukturellen Standpunkts in der Anwendung auf eine Philosophie der Musik zu prüfen. In der Tat hat die Musik unseres Jahrhunderts eine Rückkehr zu den ursprünglichen Quellen verwirklicht—einen Rückgang zu den Bedingungen ihres Aufgehens. Wir glauben nun, dass eine Philosophie der Musik einen ähnlichen Weg auf einem reflexiven Niveau durchschreiten muss. Daraus folgt, dass eine Philosophie der Musik von neuem nach jenen Unterscheidungen und grundlegenden Regeln suchen muss, die die Voraussetzungen jeder musikalischen Praxis darstellen, indem sie zur Gegebenheitsart des Tons selbst als konkret wahrnehmbare Materie gehören. Eine phänomenologische Theorie der Einbildungskraft ist endlich unvermeidlich, wenn man über die so oft wiederholte und ebenso unbefriedigend beantwortete Frage nach dem Symbolismus im musikali|schen Ausdruck Rechenschaft geben will.